Mehr Lebensqualität für Herzpatienten
10.04.2019Ein implantierter Defibrillator kann Leben retten, aber auch Ängste auslösen – eine Würzburger Studie zeigt, wie Patienten im Web lernen, damit besser zu leben.
Die Angst vor dem Schock ist bei vielen Patienten mit einem implantierten Kardioverter-Defibrillator (kurz ICD oder Defi) groß. Zum einen, weil der heftige Stromschlag in der Brust schmerzhaft sein kann, zum anderen weil man ohne ihn möglicherweise tot wäre.
Ein Defi kann die Angst beim Patienten verstärken. Das hat der Würzburger Psychologe Professor Paul Pauli mit seinem Team bereits wissenschaftlich belegt. Auch, dass eine telefonische Betreuung die Angst mildern kann.
Moderiertes Sechs-Wochen-Training im Internet
Nun haben die Psychologen der Universität Würzburg gemeinsam mit Kardiologen vom Deutschen Zentrum für Herzinsuffizienz Würzburg (DZHI) eine moderne, unkomplizierte und vor allem nachhaltige Lösung gefunden. Mit ihr kann man das Leben von Herzkranken, bei denen der Defi zu erheblichen psychischen Problemen geführt hat, langfristig verbessern und Ängste, aber auch die häufig damit einhergehende Depression, nachweislich reduzieren. Es handelt sich um ein sechswöchiges, moderiertes Internet-Training mit Hilfe zur Selbsthilfe. Darüber berichtet die renommierte Fachzeitschrift „European Heart Journal“.
Extrem ermutigend findet Professor Pauli das Interesse der Zeitschrift an seiner randomisierten und kontrollierten ICD-Forum-Studie. Darin wurde die Wirksamkeit einer webbasierten Intervention zur Verbesserung des psychosozialen Wohlbefindens bei Patienten mit implantierten Kardioverter-Defibrillatoren untersucht: „Das ist für mich das Signal, dass die kardiologische Community den Bedarf an IT-basierter psychologischer Intervention erkennt.“
Psychologische und medizinische Hilfe kombiniert
Es ist schon länger bekannt, dass eine Herzinsuffizienz häufig mit einer Depression einhergeht. Seit Jahren empfehlen die Leitlinien, herzkranke Patienten auf eine depressive Belastung zu screenen. Wie Dr. Stefan M. Schulz, der Leiter der Multi-Center-Studie erklärt, fehlten bislang aber nachhaltige und vor allem im klinischen Alltag realisierbare psychologische Interventionen, um den Patienten nicht nur medizinisch, sondern auch psychologisch zu helfen.
„Unsere Studie hat hier einen Durchbruch geleistet“, sagt Pauli. „Wir konnten zeigen, dass eine Internet-Intervention nicht nur nachhaltige Erfolge hat, sondern auch organisatorisch zu leisten ist und man sie in Kliniken implementieren kann. Es ist eine moderne Form, mit der man viele Patienten erreichen kann.“
Senioren versiert im Umgang mit dem Internet
Für die Studie wurden mehr als 1.200 Patienten in Würzburg und sechs weiteren Zentren gescreent. Voraussetzung für die Teilnahme waren ein implantierter Defibrillator sowie eine erkennbare und messbare psychische Belastung.
„Der Bedarf für eine psychologische Intervention musste vorhanden sein“, erläutert Schulz, „und das war sicher auch ein Faktor für den Erfolg der Studie.“ Außerdem sollten alle Studienteilnehmer dem Internet gegenüber aufgeschlossen sein. „Das war überraschenderweise gar kein Problem“, so Schulz. Die meisten Patienten in der Altersgruppe um 65 Jahre kannten sich mit dem Internet erstaunlich gut aus.“
118 Patienten haben schließlich an der Studie teilgenommen. Während die Hälfte von ihnen Teil einer randomisierten Kontrollgruppe ohne Internet-Intervention war, nahm die andere Hälfte in Gruppen zwischen 10 und 20 Teilnehmern an einer sechswöchigen Webschulung unter der Moderation von Schulz teil. Mit einem Passwort konnten sie sich ab einem bestimmten Stichtag anonym einloggen. Die Teilnehmer durften Fragen stellen, sich mit den anderen in einem Diskussionsforum unterhalten, mussten aber auch an den wöchentlichen Schwerpunktthemen, die sukzessive freigeschaltet wurden, interaktiv teilnehmen.
Von Angst bis Depression: jede Woche ein neues Thema
Nachdem in der ersten Woche das System erklärt wurde, stand in der zweiten Woche der Defi im Fokus. Wie funktioniert er, was darf ich?
„Die Patienten haben enorme Wissenslücken, aus denen wiederum Ängste entstehen“, so Stefan Schulz. „Einige Patienten haben zum Beispiel Angst, die Schranken in den Eingangstüren großer Geschäfte zu passieren, weil Gerüchte kursieren, dass die Elektronik die Defibrillatoren ausschalte. Aber an diesen Gerüchten ist nichts dran.“
In der dritten Woche ging es um Depressionen. Wie entstehen sie, wie gehen die Betroffenen damit um? „Vielfach haben wir Bausteine genommen, die wir von der kognitiven Verhaltenstherapie und von evidenzbasierten Methoden abgeleitet haben. Wichtig war uns, Hilfe zur Selbsthilfe zu vermitteln, so dass Gelerntes auch nach Beendigung der Programms weiter wirksam sein kann“, erläutert Schulz.
Die vierte Woche war auf Ängste fokussiert. Wichtige Themen sind hier zum Beispiel die Vorbereitung auf die letzte Lebensphase und das Lebensende. Was passiert mit dem Defi, wenn ich sterbe? Sollte ich ihn irgendwann abschalten lassen? Unsicherheiten zu reduzieren, etwa in Form von Patientenverfügungen, ist hier ein wichtiger Schritt. Denn wenn man grübelt, steigert das die Angst und verschlechtert sich die Lebensqualität.
Die fünfte Woche war vergleichbar mit einem Werkzeugkasten, aus dem sich jeder Patient individuell das Passende herausnehmen konnte. Welche Methoden helfen beim Umgang mit Stress? Wo bekomme ich Hilfe, die über das Forum hinausgeht? Wie kann ich ein eigenes Krankheitsmanagement betreiben?
In der sechsten und letzten Woche ging es darum, diesen individuellen Fokus zu vertiefen, die eigene Agenda zu definieren und um deren Umsetzung im Alltag. „Wir haben ganz bewusst nach sechs Wochen ein Ende gesetzt, sonst wäre die Verlockung groß, wichtige Fragen zu verschieben“, sagt Schulz.
Den Samen erfolgreich gesät
Der psychische Status der Patienten wurde vor und nach der sechswöchigen Schulung erfasst und ein Jahr später erneut beurteilt. Ergebnis: Bereits direkt nach der Schulung zeigte sich, dass die Teilnehmer von der Schulung profitierten.
Eine leichte Verbesserung der psychischen Belastung war aber auch bei Patienten zu erkennen, die nicht an der Webschulung teilgenommen hatten. Eventuell hat bereits die Zuwendung im Rahmen des Rekrutierungsgesprächs den Patienten geholfen.
Nach einem Jahr standen die geschulten Patienten jedoch deutlich besser da als die Patienten ohne Behandlung, die eine starke Rückkehr zu Angst und Depression aufwiesen. „Das zeigt eindrücklich, dass die Patienten während des sechswöchigen Trainings eine Kompetenz erworben haben, wie sie mit der Angst umgehen können“, resümiert Professor Pauli. „Wir haben einen Samen für etwas gesät, das wächst, wenn es gebraucht wird. Die Patienten wurden für bestimmte Problemstellungen sensibilisiert und haben sich im späteren Verlauf an die Werkzeuge erinnert, die wir ihnen mitgegeben haben.“
Praktikabler Weg zu mehr Lebensqualität
Für die Psychologen und Kardiologen aus der Universität Würzburg und dem DZHI ist diese Studie, die als erste diese positiven Effekte zeigt, ein Türöffner.
„Wir können uns gut vorstellen, die Internet-Intervention deutschlandweit anzubieten, aber auch auf andere Zielgruppen zu erweitern“, erläutert Pauli. „Viele Belastungsfaktoren, die wir in unserer Studie in den Fokus genommen haben, betreffen nämlich auch Herzpatienten ohne Defi. Unsere webbasierte Schulung eröffnet einen praktikablen Weg, die Lebensqualität von psychisch belasteten herzkranken Patienten nachhaltig zu verbessern“.
Über den innovativen Therapieansatz freut sich auch Professorin Christiane Angermann vom DZHI, der die Verbindung von Kardiologie und Psychologie besonders am Herzen liegt: „Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Studie gehört zu den Gründungsstudien des DZHI. Sie symbolisiert die multidisziplinären Kooperationen, die ohne die Infrastruktur des DZHI, wo Forschung und Versorgung zum Wohl des Patienten eng verzahnt werden, nicht möglich gewesen wäre.“
Publikation
"Efficacy of a web-based intervention for improving psychosocial well-being in patients with implantable cardioverter-defibrillators – the randomised controlled ICD-FORUM trial", European Heart Journal, 8. April 2019
https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehz134