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Medizinische Fakultät

Preisgekrönte Projekte über herausforderndes Verhalten

22.10.2024

Junge Menschen mit einer Entwicklungsstörung der Intelligenz und mit Autismus-Spektrum-Störungen stehen im Mittelpunkt zweier Projekte, für die Dr. Julia Geißler ausgezeichnet wurde.

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Dr. Julia Geißler (rechts) bei der Preisverleihung beim DGKJP-Kongress in Rostock mit Professor Hans-Christoph Steinhausen (Mitte) und Professor Tobias Renner, der die Laudatio hielt. (Bild: Regina Taurines / Uniklinikum Würzburg)

Für Projekte, welche die Lebensqualität von Menschen mit einer Entwicklungsstörung der Intelligenz verbessern können, wurde erstmals der mit 10.000 Euro dotierte Steinhausen-Stiftungspreis verliehen. Die von Helene und Professor Hans-Christoph Steinhausen gestiftete Auszeichnung ging an die Psychologin und approbierte psychologische Psychotherapeutin Dr. Julia Geißler von der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums Würzburg (UKW).

Die Preisträgerin wurde für die Projekte REDUGIA und ProVIA geehrt. REDUGIA steht für „Reduktion von freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung: Grundlagen einer interdisziplinären Allianz“; ProVIA für „Problemverhalten verstehen und vorbeugen bei Intellektueller Entwicklungsstörung und Autismus-Spektrum-Störungen“.

Kooperationspartner bei den Projekten sind zwei Professoren der Universität Würzburg: Christoph Ratz vom Lehrstuhl für Sonderpädagogik IV – Pädagogik bei Geistiger Behinderung und Rüdiger Pryss vom Institut für Medizinische Datenwissenschaften. Finanziell unterstützt werden die Projekte einschließlich des Folgeprojekts ProVIA-Teams vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales.

Verhaltensprävention ist von zentraler Bedeutung

„Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen oder Entwicklungsstörungen der Intelligenz sind eine vulnerable Gruppe, die oft Schwierigkeiten hat, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu kommunizieren, und die meist nicht in der Lage ist, um Hilfe zu bitten“, sagt Julia Geißler.

Die Betroffenen zeigen herausforderndes Verhalten, weil sie sich im Moment nicht helfen können. Sie sind zum Beispiel aggressiv, verletzen sich selbst oder zeigen eine starke Verweigerungshaltung. Das erschwert ihnen das Lernen, Selbstständigkeit und Sozialisation und kann ein dramatisches Hindernis für die Teilhabe an der Gesellschaft sein. „Aus diesem Grund ist die Verhaltensprävention von zentraler Bedeutung, unter anderem durch eine gute Schulung der Betreuungspersonen in der Erkennung der Ursachen“, so die Preisträgerin.

REDUGIA: Freiheitsentziehende Maßnahmen sind nicht häufig

Herausforderndes Verhalten stellt auch eine große Belastung für Betreuungspersonen dar. Im Extremfall kann es freiheitsentziehende Maßnahmen auslösen, die in erster Linie dem Schutz des Kindes oder seiner Umgebung dienen. Wann und unter welchen Voraussetzungen freiheitsentziehende Maßnahmen zulässig sind, regelt § 1631b BGB. Das Gesetz wurde durch eine Novellierung im Jahr 2017 dahingehend verschärft, dass solche Einschränkungen der Freiheit nur in Ausnahmesituationen und unter strengen Voraussetzungen erfolgen dürfen.

REDUGIA ist die erste Studie, die systematisch die Häufigkeit von herausforderndem Verhalten, freiheitsentziehenden Maßnahmen und der Belastung des Personals in stationären Einrichtungen für junge Menschen mit Entwicklungsstörungen der Intelligenz in einem deutschen Bundesland erfasst. In solchen Einrichtungen leben in Bayern etwa zehn Prozent aller jungen Menschen mit Intelligenzminderung.

Die repräsentative Befragung in bayerischen Heimen zeigte: Herausforderndes Verhalten und freiheitsentziehende Maßnahmen sind kein flächendeckendes Phänomen. Sie konzentrieren sich auf wenige spezialisierte Einrichtungen, in denen Kinder mit dem höchsten Bedarf und den gravierendsten Verhaltensproblemen betreut werden. Freiheitsentziehende Maßnahmen werden dort nicht häufig angewendet, und die Einrichtungen gingen schon vor der Gesetzesänderung verantwortungsvoll damit um. Den 2016 in Presseberichten erhobenen Vorwurf weitreichender unzulässiger freiheitsentziehender Maßnahmen konnte die Studie nicht bestätigen.

„Aber es gibt einen Zusammenhang zwischen herausforderndem Verhalten und der Belastung des Personals. Das zeigt, wie hoch der Betreuungsbedarf ist und wie wichtig Präventionsmaßnahmen sind, um solche Situationen zu vermeiden“, sagt Julia Geißler. Sie empfiehlt, den Pflegenden mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um die Ursachen des Verhaltens anzugehen.

ProVIA: App unterstützt bei der Verhaltensprävention

Um dem Mangel an Beratungs- und Therapieangeboten bei herausforderndem Verhalten zu begegnen, wurde im ebenfalls preisgekrönten Projekt ProVIA die Smartphone-App ProVIA-Kids entwickelt. In der App wurde erstmals das Prinzip der Verhaltensanalyse in ein digitales Format übersetzt. Betreuungspersonen von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen oder Entwicklungsstörungen der Intelligenz erhalten so niedrigschwellig und kostenfrei Unterstützung im Alltag, ohne auf die personellen Kapazitäten anderer Stellen angewiesen zu sein.

Die App bündelt Informationen und bereitet sie so auf, dass Betreuungspersonen Muster im Verhalten des Kindes leichter erkennen und die wichtigsten Probleme des Kindes effektiv angehen können. Darüber hinaus leitet die App die Betreuungspersonen zur Selbstfürsorge und zum Aufbau von Ressourcen an. Ziel von ProVIA ist die Prävention von herausforderndem Verhalten und freiheitsentziehenden Maßnahmen.

„Natürlich erhebt die ProVIA-Kids-App nicht den Anspruch, eine therapeutische Behandlung zu ersetzen, aber sie kann helfen, Wartezeiten auf Therapieplätze zu überbrücken, Therapieinhalte zu ergänzen und leistet insgesamt einen wertvollen Beitrag zur Entlastung von Familien“, sagt Julia Geißler.

Pilotstudie verdeutlichte das Potenzial der App

Eine Pilotstudie mit 23 Familien zeigte eine hohe Akzeptanz und eine sehr positive Bewertung der Lerninhalte. „Erste Verbesserungen in Bezug auf elterliche Belastung, kindliches Problemverhalten und Erziehungskompetenz deuten auf eine gute Eignung dieser niedrigschwelligen digitalen Intervention für die Zielgruppe hin“, fasst Julia Geißler die Ergebnisse zusammen. Publiziert wurde die Studie in der Fachzeitschrift Frontiers in Digital Health. Perspektivisch solle die Intervention in einer randomisiert-kontrollierten Studie auf ihre Wirksamkeit in Bezug auf die Prävention von herausforderndem Verhalten und die Belastung der Betreuungspersonen untersucht werden.

Aktuell wird die App im Folgeprojekt ProVIA-Teams auf Basis des Feedbacks der Pilotnutzer weiterentwickelt und um die Möglichkeit erweitert, die eingegebenen Daten datenschutzkonform mit anderen ausgewählten Betreuungspersonen zu teilen.

Ab dem Winter 2024 können Einrichtungen, die Kinder mit Autismus oder Intelligenzminderung betreuen, die App testen. Darüber hinaus soll in Zusammenarbeit mit Betroffenenorganisationen und Familien eine begleitende App entwickelt werden, die direkt von Kindern mit Entwicklungsstörungen der Intelligenz oder Autismus-Spektrum-Störungen genutzt werden soll. Sie soll den Kindern helfen, ihr Verhalten besser zu verstehen und zum Beispiel Frühwarnzeichen von Anspannung zu erkennen und diese dann zu regulieren.

Von Pressestelle Universitätsklinikum Würzburg

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