Wiki für einen Universalgelehrten
Joachim Camerarius d. Ä. (1500-1574) war einer der führenden deutschen Gelehrten der frühen Neuzeit. Dennoch sind seine Werke bis heute weitgehend unerschlossen. Das zu ändern ist Ziel eines neuen Forschungsprojekts an der Universität Würzburg.
Humanist, Klassischer Philologe, Theologe, Hochschullehrer, Gymnasiallehrer, Schriftsteller und Übersetzer. Polyhistor und Poet. Verfasser der Biografien von Melanchthon, Eobanus Hessus und Herzog Georg von Anhalt: So beschreibt die Deutsche Nationalbibliothek Joachim Camerarius den Älteren – geboren am 12. April 1500 in Bamberg und gestorben am 17. April 1574 in Leipzig.
540.000 Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Sein umfangreiches Werk steht im Zentrum eines neuen Forschungsprojekts an der Universität Würzburg, das im Januar 2017 seine Arbeit aufnimmt: „Opera Camerarii. Eine semantische Datenbank der gedruckten Werke von Joachim Camerarius d. Ä.“. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert das Projekt mit rund 540.000 Euro.
Er sei der „hervorragendste deutsche Philologe des 16. Jahrhunderts“ nach Erasmus von Rotterdam gewesen. Das schreibt der Altphilologe Friedrich Stählin über Joachim Camerarius. Nach dem Schulbesuch in Bamberg ging Camerarius 1512/13 nach Leipzig und nahm dort das Studium auf. 1518 wechselte er an die Universität Erfurt, 1521 an die Universität Wittenberg, wo er Freundschaft mit Philipp Melanchthon schloss. 1522 wurde er hier zum Professor für Rhetorik ernannt. Nach einer Zwischenstation als Rektor und Professor für Griechisch am Egidiengymnasium in Nürnberg – eine Stelle, die er auf Melanchthons Empfehlung erhielt – folgte Camerarius im Jahr 1535 dem Ruf auf die Gräzistik-Professur an der Universität Tübingen und – sechs Jahre später – dem Ruf an die Universität Leipzig, wo er bis zu seinem Tod, unter anderem als Rektor und Universitätsreformer, prägend tätig war.
Vielfältige Interessen – interdisziplinärer Ansatz
Camerarius war Herausgeber und Kommentator zahlreicher antiker Autoren, etwa von Sophokles und Demosthenes, Cicero und Caesar. Daneben beschäftigte er sich mit Geschichte, Theologie, Pädagogik, Mathematik und Astronomie. Seine vielfältigen Interessen spiegeln sich in der interdisziplinären Zusammensetzung der neuen Forschergruppe an der Universität Würzburg wider: Leiter des Projekts sind Professor Thomas Baier, Inhaber des Lehrstuhls für klassische Philologie II mit einem Schwerpunkt auf Latein, Joachim Hamm, Professor für Deutsche Philologie und Experte für die Literaturgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, sowie Dr. Ulrich Schlegelmilch, Altphilologe und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin ausgewiesener Kenner von frühneuzeitlichen Briefen. Zu den Initiatoren des Projekts gehören zudem Professor Marion Gindhart, Latinistin mit einem Forschungsschwerpunkt in der Wissensgeschichte der frühen Neuzeit, sowie die Altphilologin und Medizinhistorikerin Dr. Sabine Schlegelmilch.
Seine unterschiedlichen Interessengebiete sind möglicherweise der Grund dafür, dass Camerarius jenseits eines kleinen Kreises von Forschern vergleichsweise unbekannt ist und seine Werke kaum erschlossen und wenig erforscht sind. „Er war kein Theologe und fällt somit durch deren Raster, obwohl er sich mit Fragen der Reformation beschäftigt hat. Genauso wenig war er Mediziner oder Dichter – auch wenn er sich für Pharmakologie interessierte oder zahlreiche Gedichte verfasst hat“, erklärt Thomas Baier. Dabei sei Camerarius ein „enormer Netzwerker und Organisator“ gewesen, der mit führenden Gelehrten seiner Zeit in Kontakt gestanden habe, so Baier. Und in Tübingen und Leipzig sei er maßgeblich an der Entwicklung „reformatorischer Universitäten“ beteiligt gewesen.
Gezielte Recherche in einem semantischen Wiki
Über 850 Drucke, an denen Camerarius beteiligt war, finden sich heute in Bibliotheken, beispielsweise in München, Leipzig und Wolfenbüttel. Sie stehen zum Großteil eingescannt im Internet zur Verfügung und wurden von den Würzburger Wissenschaftlern in einer Online-Datenbank bibliographisch erfasst. Das allerdings reicht nicht aus: „Aus den bibliographischen Angaben lässt sich nicht erkennen, welchen Beitrag Camerarius zu den jeweiligen Werken geleistet hat“, erklärt Joachim Hamm. War er Autor, Kommentator oder hat er gar nur ein kurzes Begleitgedicht verfasst? Auf diese Fragen fehlen bisher zuverlässige Antworten, ebenso wie auf Fragen nach dem konkreten Inhalt der Camerarius-Schriften oder nach ihren Bezügen zu anderen frühneuzeitlichen Autoren.
Camerarius‘ Werke bibliographisch, inhaltlich und konstellationsanalytisch erschließen und damit für Wissenschaft und Öffentlichkeit überhaupt erst nutzbar machen: So beschreibt Hamm die Arbeit der am Projekt beteiligten Wissenschaftler in den kommenden drei Jahren. Ihr Ziel ist eine kommentierte Werkbibliographie, die im Internet frei zugänglich sein wird. „Wir erstellen ein sogenanntes semantisches Wiki – also eine Art Wikipedia mit speziellen Attributen, beispielsweise zu Personen und Sachbegriffen, die in Camerarius‘ Schriften auftauchen“, erklärt Ulrich Schlegelmilch. In welcher Angelegenheit hat sich Camerarius mit Ulrich von Hutten ausgetauscht? Mit welchen Humanisten stand er in Kontakt? Welche wissenschaftlichen Netzwerke hat er geknüpft, auf welchen Feldern hat er gearbeitet? Diese und viele weitere Fragen sollen sich in Zukunft leicht und gezielt mit Hilfe des Wikis erforschen lassen.
Auch Briefe von und an Camerarius werden die Wissenschaftler in dieses Wiki mit aufnehmen – allerdings vorerst nur solche, die auch in gedruckter Form erschienen sind. Zusammengestellt in einer mehrbändigen Sammlung und überdies als Widmungsschreiben zu Camerarius‘ Publikationen dokumentieren sie seinen Austausch mit anderen Gelehrten seiner Zeit. „Wir konzentrieren uns auf diese Briefe, da die Auswahl durch den Autor und seine Familie bereits eine Aussage ist“, sagt Ulrich Schlegelmilch. Schließlich solle damit ein bestimmtes Bild von Camerarius transportiert werden.
Unterstützung durch die Unibibliothek
Eine spezielle Software wird die Wissenschaftler bei ihrer Arbeit unterstützen: das Semantic MediaWiki. „Es generiert automatisch semantische Bezüge, nachdem wir diese einmal initial definiert haben, und hilft so, die Werke des Camerarius miteinander zu verknüpfen und sie damit besser zu erschließen“, sagt Joachim Hamm. Technische und personelle Unterstützung leistet in diesem Punkt die Würzburger Universitätsbibliothek mit ihrem Digital Humanities Zentrum. Martin Gruner, ein ausgewiesener Wiki-Spezialist, wird die Software betreuen und die inhaltlichen Anforderungen, die in der Projektgruppe entwickelt werden, technisch definieren. Eine von ihm angeleitete wissenschaftliche Hilfskraft wird neue Verknüpfungs- und semantische Abfragemöglichkeiten erstellen und die Projektgruppe bei der Arbeit am Wiki in technischen Belangen unterstützen.
Die Server der Unibibliothek sollen auch die erforderliche Datensicherheit des Camerarius-Wiki garantieren. Ob das Wiki es allerdings schaffen wird, so wie die gedruckten Werke, ebenfalls 500 Jahre zu überdauern? Darüber wagen die Wissenschaftler keine Prognose.
Kontakt
Prof. Dr. Thomas Baier, T: (0931) 31-82821
Prof. Dr. Joachim Hamm, T: (0931) 31-81679 oder -85611
Dr. Ulrich Schlegelmilch, T: (0931) 31-81070
Martin Gruner, T: (0931) 31-89843
E-Mail: camerarius@uni-wuerzburg.de