Wo die Drachen wohnen

In der Festkörperphysik gibt es noch immer unerklärte Phänomene. Einem Team von Physikern ist es nun gelungen vorherzusagen, wo genau die Grenze zwischen dem Gültigkeitsbereich bekannter Theorien und dem unerforschten Gebiet verlaufen muss.
Auf mittelalterlichen Seekarten wurden unerforschte Gebiete gerne mit Fabelwesen und bedrohlichen Tieren verziert. „Hier wohnen Drachen“: Das war ein klarer Hinweis darauf, dass in dieser Gegend Unerklärliches geschieht.
Ähnlich verhält es sich mit einer Karte festkörperphysikalischer Vorgänge, die an der Technischen Universität (TU) Wien berechnet wurde: Erstmals gelang es, klar definierte Grenzen zu ziehen zwischen metallischen Materialien, die man gut versteht, und dem noch immer geheimnisvollen Bereich, in dem offene Rätsel warten – etwa die Hochtemperatur-Supraleitung und die atypische spezifische Wärme in der Nähe des so genannten Mott-Hubbard-Übergangs, an dem ein Metall zum Isolator wird.
Die Kartierung soll nun helfen, die verbleibenden Rätsel aufzuklären. „Viele außergewöhnliche Phänomene finden in der Gegend des Mott-Überganges statt, genau deswegen ist dieser Bereich für uns so interessant“, sagt Thomas Schäfer (TU Wien), Erstautor der Publikation in der Zeitschrift „Physical Review Letters“. An der Arbeit beteiligt sind außerdem Professor Giorgio Sangiovanni von der Universität Würzburg und Teams vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart und von der Universität Aquila (Italien).
Bewegliche und gefangene Elektronen
Worin bestehen die offenen Rätsel? Metalle leiten elektrischen Strom, Isolatoren können das nicht. Verantwortlich dafür sind die Elektronen, die sich in einem Metall recht frei bewegen können, während sie in einem (Mott-) Isolator an einem ganz bestimmten Punkt festsitzen.
Allerdings gibt es Materialien, in denen sich ein Übergang von metallischem zu isolierendem Verhalten beobachten lässt. „Steuern lässt sich das in bestimmten Fällen zum Beispiel über den Druck“, erklärt Alessandro Toschi vom Institut für Festkörperphysik der TU Wien: „Bei hohem Druck rücken die Atome des Festkörpers etwas näher zusammen und es fällt den Elektronen leichter, von einem Atom zum anderen zu wechseln.“ So kann ein Isolator zum elektrischen Leiter werden.
Supraleitung bei hohen Temperaturen
Auch andere merkwürdige Phänomene sind in der Festkörperphysik bekannt – etwa die Hochtemperatur-Supraleitung. Viele Materialien verlieren ihren elektrischen Widerstand, wenn man sie auf extrem niedrige Temperaturen abkühlt. Strom kann dann völlig verlustfrei fließen. Bei manchen Materialien tritt dieser Effekt in der Nähe eines Mott-Hubbard-Übergangs aber auch schon bei verhältnismäßig hohen Temperaturen auf, in manchen Fällen schon bei etwa minus 140 Grad Celsius. Warum das so ist, wird bis heute intensiv und kontrovers diskutiert.
Wie viel Energie kostet Wärme?
Auch Anomalien der spezifischen Wärme gehören zu den bemerkenswerten Phänomenen: Je weiter man einen Festkörper abkühlt, umso geringer wird die in ihm gespeicherte Wärmeenergie. Dieser Zusammenhang ist aber manchmal nicht gleichmäßig linear wie in normalen Metallen: Er zeigt dann an einer bestimmten Stelle einen Knick – bei niedrigeren Temperaturen muss für eine weitere Abkühlung plötzlich mehr Energie entzogen werden als vorher.
Scharfe Grenzlinie beschrieben
Für all diese Materialien hat das internationale Physikerteam die Wechselwirkungen der Elektronen im Festkörper berechnet. Bei den aufwändigen Computersimulationen ergab sich eine ganz scharfe Grenzlinie zwischen gewöhnlichem, metallischem Verhalten und den Parameter-Bereichen, in denen herkömmliche Beschreibungsmethoden versagen. „Erstmals können wir diese Grenze mathematisch sauber definieren“, sagt Georg Rohringer von der TU Wien.
Mit dieser Grenzziehung sei aber noch keine Theorie geboren, die festkörperphysikalische Phänomene zufriedenstellend erklärt. Doch sie biete nun endlich eine Orientierungshilfe, von der die theoretische Forschung stark profitieren könnte – so wie auch eine Seekarte mit gut erkennbarer Küstenlinie sehr nützlich ist, selbst wenn sie noch keine Details über alle Meeresströmungen beinhaltet.
Diskussion über die Grenzlinie
Über die physikalische Interpretation der Grenzlinie wird noch diskutiert. Ist es vielleicht die Linie, an der sich die ersten gebundenen Elektronenzustände bilden, deren Anzahl dann Schritt für Schritt wächst, bis irgendwann alle Elektronen fest sind und sich keine Leitungselektronen mehr frei bewegen? Die Physiker forschen eifrig weiter. Jetzt wissen sie ja genau, wo sie suchen müssen.
Quelle: Pressemitteilung der TU Wien
“Divergent Precursors of the Mott-Hubbard Transition at the Two-Particle Level”, T. Schäfer, G. Rohringer, O. Gunnarsson, S. Ciuchi, G. Sangiovanni, and A. Toschi, Phys. Rev. Lett. 110, 13. Juni 2013, 246405 (2013), DOI 10.1103/PhysRevLett.110.246405
Kontakt
Prof. Dr. Giorgio Sangiovanni, Institut für Theoretische Physik und Astrophysik der Universität Würzburg, T (0931) 31-89100, sangiovanni@physik.uni-wuerzburg.deText: Pressestelle Uni WürzburgBild: TU Wien